Auch wir haben in mehreren Artikeln hierzu berichtet: So bspw. zur Umsetzung in Polen und bzgl. der Auswirkungen auf UK. Nun neigt sich das Jahr dem Ende entgegen und die Whistleblowing-Richtlinie 2019/1937 hätte bis zum 17. Dezember 2021 durch die nationalen Gesetzgeber in allen EU-Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden müssen.
Hierzu ist es in einer Vielzahl von Mitgliedsstaaten – darunter Deutschland, Frankreich, Poland, Italien und andere - nicht gekommen. Damit fehlt es an einer den einzelnen Unternehmer verpflichtenden Umsetzung der Whistleblowing-Regelungen und es besteht eine Phase der Unsicherheit, bis die Mitgliedsstaaten ihrer Umsetzungspflicht nachgekommen sind.
Wie mit dieser Unsicherheit umgegangen werden sollte und welche gesetztlichen Regelungen in diesem Zeitraum gelten, stellen wir in unserem nachfolgenden Beitrag dar.
I. Status quo: Keine unmittelbare Wirkung der Richtlinie bei nicht erfolgter Umsetzung
Die Whistleblowing-Richtlinie enthält eine Vielzahl wichtiger Vorgaben. Im Zentrum steht zum einen die Verpflichtung zur Einrichtung eines Hinweisgeberssystems (Art. 7 ff.) und verpflichtende Maßnahmen zum Schutz von Hinweisgebern (Art. 19 ff). Die Richtlinie enthält damit zum einen organisatorische Pflichten des Arbeitsgebers und zum anderen ein umfassendes Maßregelungsverbot hinsichtlich sämtlicher Hinweisgeber.
Allerdings gelten Richtlinie im Gegensatz zu Verordnungen nicht unmittelbar sondern bedürfen der Umsetzung durch die Mitgliedsstaaten (vgl. Art. 288 Abs. 3 AEUV). Gesetzeswirkung erlangen sie damit nur, wenn die Regelungen der Richtlinie in nationales Recht umgesetzt werden. Das Mittel der Umsetzung ist gleichwohl offen. Wichtig ist nur, dass der durch die Richtlinie intendierte Schutz effizient gewährt wird. Der nationale Gesetzgeber kann ferner einen über die Richtlinie hinausreichenden Schutz gewähren, er darf allerdings nicht hinter den Vorgaben der Richtlinie zurückbleiben.
Unterlässt ein Mitgliedsstaat die Umsetzung bis zum Umsetzungszeitraum, so sind Vertragsverletzungsverfahren denkbar. Ferner kann ein betroffener Bürger Staatshaftungsansprüche gegenüber dem Staat geltend machen (EuGH, C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, 5357ff.). Trotz allem kommt es aber in keinem Fall zu einer vollständigen unmittelbaren Wirkung der nicht umgesetzten Richtlinie.
II. Ausnahme: Begrenzte unmittelbare Wirkung anerkannt
Allerdings wäre es widersprüchlich, wenn die Mitgliedsstaaten aus der vertragswidrigen Nichtumsetzung der Richtlinie in nationales Recht Vorteile ziehen würden. Aus diesem Grund ist anerkannt, dass in Ausnahme zu dem oben Gesagten eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien im Verhältnis Bürger – Staat (horizontales Verhältnis) in Betracht kommt.
Dies soll jedenfalls nach der Rechtsprechung des EuGH dann möglich sein, wenn der Umsetzungszeitraum abgelaufen ist und die Richtlinie self-executing ist, das heißt sich konkrete Vorgaben und Folgen aus ihr ableiten lassen. Konkret bedeutet das, dass sich Bürger gegenüber dem Staat direkt (unmittelbar) auf die Richtlinie berufen können und hieraus Ansprüche herleiten können.
Hieraus resultieren auch für den Bereich Whistleblowing recht weitgehende Folgen: Als Arbeitgeber sind die Mitgliedsstaaten unmittelbar an die Richtlinienvorgaben gebunden, sodass insbesondere eine Maßregelung der Mitarbeiter unzulässig ist. Der Staat selbst kann aber in unterschiedlichen Formen Arbeitgeber sein: Unmittelbar, aber auch in Form von staatlichen Schulen, Behörden, Universitäten oder sonstigen staatlichen Institutionen. Alle dort beschäftigten Mitarbeiter können sich folglich unmittelbar auf den Schutz der Richtlinie berufen.
Jedenfalls im horizontalen Verhältnis, das heißt zwischen Bürgern und privaten Arbeitgebern scheidet eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien aber aus, sodass die Nichtumsetzung hier dazu führt, dass der Rechtsschutz der Beschäftigten minimiert und der Pflichtenkreis der Unternehmen begrenzt wird
III. Jedenfalls aber: Berücksichtigung durch nationale Gerichte bei Auslegung von unbestimmten Normen
Dennoch wäre es völlig falsch bei Nichtumsetzung der Richtlinie dieser im Verhältnis zwischen privaten Arbeitgebern und Arbeitnehmern keinerlei Bedeutung zuzumessen. Im Grundsatz ist zwar der nationale Gesetzgeber zur Umsetzung der Richtlinien verpflichtet, gleichwohl können und sollen die nationalen Gerichte das bestehende nationale Recht nach Ablauf des Umsetzungszeitraums der Richtlinie stets richtlinienkonform auslegen und damit der Richtlinie auch ohne explizite Umsetzung zu größtmöglicher Wirksamkeit (effet utile) verhelfen.
Dies bedeutet im konkreten Fall, dass nationale Gerichte bei der Überprüfung von Maßregelungen und Kündigungen auf ihre Rechtmäßigkeit die oben gezeigten Wertungen zu berücksichtigen haben. Nur dort, wo das nationale Recht eindeutig ist und eine entsprechende Berücksichtigung der Wertungen der Whistleblowing-Richtlinie nicht zulässt, insbesondere weil dies mit dem klaren Wortlaut unvereinbar ist, scheidet eine solche unionsrechtskonforme Auslegung aus. Da aber die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Kündigungen und Maßregelungen anhand einer Vielzahl von (unbestimmten) Kriterien erfolgt, ist davon auszugehen, dass eine unionsrechtskonforme Auslegung im Regelfall möglich ist. Einfallstore hierfür wären nach deutschem Recht bspw. der Begriff der sozialen Rechtfertigung der Kündigung nach § 1 Abs. 1 und 2 KSchG sowie das Maßregelungsverbot aus § 612a BGB. Auch aus anderen Mitgliedsstaaten sind solche unbestimmten Begrifflichkeiten bekannt, sodass auch hier zu erwarten ist, dass eine Berücksichtigung der Wertungen der Richtlinie durch die Rechtsprechung erfolgen wird.
Ferner ist auch zu erwarten, dass Gerichte gegen (vermeintliche) Whistleblower gerichtete Sanktionsmaßnahmen des Arbeitgebers für unzulässig erachten, wenn ein von der Richtlinie vorgeschriebenes Hinweisgebersystem (oder ein ähnlich effizientes System) nicht eingerichtet war.
IV. Praktische Folgen
Es zeigt sich also, dass auch in EU-Mitgliedsstaaten in denen die Richtlinie noch nicht umgesetzt wurde, Whistleblowing eine sehr hohe Bedeutung hat und die Vorgaben der Richtlinie einzuhalten sind.
Dies gilt zuallererst für den Staat selbst als Arbeitgeber, ebenso aber auch für private Arbeitgeber, da hier jedenfalls die nationalen Gerichte gehalten sind, der Richtlinie (auch ohne gesetzliche Umsetzung) zu größtmöglicher Wirksamkeit zu verhelfen.
Unternehmen sind daher gehalten, die Vorgaben der Rechtlinie – selbst wenn diese nicht unmittelbar wirkt und in einigen Mitgliedsstaaten noch nicht umgesetzt ist – jetzt schon zwingend berücksichtigen. Ein Vertrauen darauf, "dass schon nichts passieren wird", weil eine gesetzliche Regelung (noch) fehlt, wäre äußerst riskant und keinesfalls zu empfehlen.
Aus diesem Grund wird zwingend empfohlen, den Ablauf der Umsetzungsfrist am 17. Dezember 2021 noch einmal zum Anlass zu nehmen, und zu überprüfen, ob entsprechende Hinweisgebersysteme schon eingerichtet sind und diese anderenfalls zeitnah einzurichten.
Denn klar ist auch: Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass sich die Mitgliedsstaaten dauerhaft über die Richtlinienvorgaben hinwegsetzen, sodass in Kürze ohnehin damit zu rechnen ist, dass überall nationale Regelungen bestehen.